Samstag, 19. September 2009

Vermeintlich verlorene Perspektiven

Erneut ein Amoklauf an deutschen Schulen. Der Name ist austauschbar geworden. Ich spreche mit meiner Großmutter darüber. Wie zu erwarten in ihrer Generation vermutet sie sogleich das 'Schlimmste': ["Wahrscheinlich aus dem 'Milieu' - Drogen müssen im Spiel gewesen sein - Jugendkriminelle - "sicher Ausländer"!].
Mitnichten. Wieder beweist sich, dass die jugendlichen Amokläufer meist in bürgerlichem Milieu, fern der konkreten Existenzbedrohung verwurzelt sind. "Unauffällig und ruhig" ist das neue Täterbild. Gruselig. Mein Freundeskreis ist voll davon. ["Dann sind die Computerspiele Schuld! Da sehen sie doch die Gewalt! Kino! Oder diese Popmusik!"].
Es ist schon etwas dran an der zunehmenden Darstellung von Gewalt in Medien. Der Schockfaktor zieht natürlich immer noch Käuferschichten an und Lars von Trier darf sich austoben ... und es ist Kunst; welch Wunder. ["Das kommt doch alles aus Amerika! Da fing das doch an."]
Tatsächlich muss sich die detailreiche Berichterstattung über Littleton - um den Schockzustand einer Gesellschaft zu bewältigen - in Grenzen vorwerfen lassen die Option solcher Gewalt in Jugendliche Köpfe gespeist zu haben. Schulmassakker: ein kulturelles Massenphänomen - wie die Hysterie? Die Erklärung scheint auf der Hand zu liegen. Doch es bleibt letztlich die Ratlosigkeit des Einzelnen. Sie findet ihre Entsprechung im Verhalten der Medien in gutrecherchierter Deutungslosigkeit zu verbleiben. ["Ja aber was haben denn die Kinder dann? Sie haben doch alles. Warum ticken sie denn so aus?"]
Das Problem liegt nicht in der tatsächlichen Lebenssituation, sondern in der Wahrnehmung derselben. In einem Land, das juristisch den Abschreckungseffekt leugnet und politisch sich der naturgemäß sozial-ungerechten Wirtschafts- und Bankenwelt anbiedert, während es sie formell und öffentlich geißelt, müssen die Werte für "Richtig" und "Falsch" durcheinandergeraten. Die Täter entscheiden sich bewusst für ein "Gegen", gegen ihre private Umwelt aber auch gegen die soziale Allgemeinheit. Ihre Handlungen rechtfertigen sie oft mit dem Willen, "unerträgliche Ungerechtigkeiten" zu bestrafen - als Selbstjustiz, als schnöde Rache. In "Kinder brauchen Märchen" von Bruno Bettelheim heißt es: "Wie groß die (...) Verzweiflung des Kindes in Augenblicken völlig hoffnungsloser Niederlage ist, erkennt man aus seinen Wutausbrüchen; sie sind der sichtbare Ausdruck seiner Überzeugung, es könne nichts unternehmen um seine 'unerträglichen' Lebensverhältnisse zu verbessern." Die Welt, die Umwelt und auch jene Parteien, die in einer Woche zur Wahl stehen erreichen sie nicht mehr. Auch mehr Schulpsychologen werden daran nichts ändern. Die Tragödie nimmt ihren Lauf. Beendet wird sie erst mit einem großen Umdenken werden.

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