Montag, 15. Dezember 2008

Ein Topos

Wer gerne liest, wird oft auf Bücher stoßen, die er gerne lesen würde (nichts wäre banaler). Doch alleine bei meinem heutigen Besuch im Buchhandel meines Vertrauens fand ich gleich derer fünf und das auch nur, weil ich nicht richtig geschaut habe. Der neue Tellkamp scheint gewichtig, die Gesamtausgabe von Kafka gewichtiger, die Neuübersetzung der Ilias lockt mit zeitloser Klassik, doch da ist auch noch das kleine und eventuell geistreiche Büchlein über den Sinn des Lebens von Terry Eagleton.
Und genau hier kommt das Problem: wenn man annimmt, dass ein Mensch nur ca. 15.000 Lesetage zur Verfügung hat und weiter annimmt, dass ein Buch ca. 3-5 dieser Tage verbraucht, dann ergibt das eine Menge von ca. 3000 Bücher, die ein Mensch in seinem Leben lesen könnte. Doch das tiefere Problem steckt im Konjunktiv, denn da sind ja noch andere Medien wie Musik oder Film, das Weltgeschehen vermittelt durch Nachricht und Zeitung und immer wieder der Wunsch nach eigenem Schreiben, Freunde, Beziehung, Spaziergänge, Hobby, Sport. Zeit, die der Literatur verlorengeht. An dieser Stelle bricht mir Schweiß aus: Es muss selektiert werden, ausgewählt, abwägt. Soll ich lieber Shakespeare durcharbeiten oder Brecht? Darf es Goethe sein oder Hugo? Und kann ich es mir erlauben, mich tagelang in russischen Erzählungen von Gogol bis Mandelstamm zu verlieren, wenn ich nicht mal Mallermés Gedichte kenne? Was war mit meiner Jugend? Computerspiele, Besäufnisse, Pokerrunden. Ich hätte Cicero, Bocaccio und Petrarca haben können! Waren die ersten Lieben blass im Vergleich mit Dantes erhabener Beatrice? Was ist mit all den unbekannten Literaturen, die ich schon immer erkunden wollte, Japan, Lateinamerika, Indien?
"Leise, langsam, Unglückseliger" scheint der Winter mir zuzuraunen. "Überschlage dich nicht, sondern lese!" Recht hat er. Mit jedem Satz kommt man dem unerreichbaren und unbenannten Ziel zumindest einen Satz näher.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen