Donnerstag, 1. Juli 2010

Der Fall Hegemann, neu abgemischt

Zitatmix ein:
Über keinen Debütroman der letzten Jahre wurde so viel geschrieben, wie über Axolotl Roadkill von Helene Hegemann. Fassen wir kurz zusammen: die damals sechzehnjährige Jungautorin schrieb einen sprachlich wütenden, teilweise unlesbaren Roman über Drogen, Sex und Jugendrevolte. „Das Feuilleton“, offenkundig genervt von hipromantischer Jugendliteratur á la Stephanie Meier und co. reagierte begeistert und jubelte den Text zum besten Literaturereignis der Nullerjahre. Ein Richtiger Hype entstand und alle sprangen an und auf.

Fallen Angel, Superstar.

»Es geht um meine Wahnvorstellungen. Unfassbar, wie ich mich hier schon wieder auf cognacfarbenen 9‐cm‐Absätzen dem ganzen Scheiß aussetze, Industriegebiet natürlich, von weitem sieht man ein ehemaliges Heizkraftwerk, in dem es sich spätestens in einer halben Stunde diesem Zwang zur Selbstvergessenheit auszusetzen gilt. Ich bewältige einen von Neonröhren umzäunten Weg, der als der geilste der Welt gilt und mich aus einem mir unerfindlichen Grund nie interessiert hat. Ich finde meine dissoziative Identitätsstörung interessanter als alles, was diese Stadt mir ununterbrochen ins Gesicht kotz. «

Man mochte diese freche Textsause einfach: sie roch nach Feuchtgebieten, Faserlanden und den Kindern vom Bahnhof Zoo, nur authentischer, kaputter, intensiver, irgendwie. Hegemann war über Nacht zur neuen radikalen Stimme der deutschen Literatur geworden. Schon wurde das junge Genie für den Leipziger Buchpreis vorgedacht, da meldete sich ein Blogger zu Wort – ein Teilnehmer jenes investigativen Web 2.0 das alle gerne tot reden ‐ und führte den schwersten denkbaren Vorwurf ins Feld: Plagiatismus (nachzulesen auf www.gefuehlskonserve.de). Strobo heißt das weitgehend unbekannte Buch des Berliner Autors Airen, aus dessen Textvolumen ganze Passagen übernommen wurden:

Axolotl Roadkill: »Ich habe Fieber, Koordinantionsschwierigkeiten, ein Promille im überhitzten Blut…«
Strobo: »Ich habe ein Grad Fieber sowie ein knappes Promill Alkohol im überhitzten Blut. «

Dann ging alles ganz schnell. Das Wunderkind hatte abgeschrieben (wie gemein von ihr!) und alle waren sie darauf reingefallen. Hass, Häme und Verachtung für die Autorin und ihr Werk nahmen beschämende Ausmaße an und besorgte Zeitungsredaktionen forderten von den Feuilletonisten kollektiven Widerruf ihrer Lobeshymnen. Stets mit dabei: die allgegenwärtige Doppelmoral, frei nach dem Motto: ‚Man darf sich nur nicht erwischen lassen! ‘. Stattdessen suchte man Trost bei den wenigen kritischen Stimmen, die es ja gleich gewusst haben wollten ‐ z.B. Simone Meier (bazonline.ch) ‐ und wertete das vorher so lobenswerte Wortgewitter zu altkluger Phrasendrescherei herab. Hegemanns Verteidigung in einer eilig verfassten Pressemitteilung heizt die entstehende Debatte nur noch mehr an: »Originalität gibt's sowieso nicht, nur Echtheit.« Da schwingt etwas Halbdurchgedachtes vom Tod des Autors mit, Julia Kristewa und die Intertextualität lassen grüßen. Die Anfeinder spürten derweil selbstbewusst Buchbestellungen der Autorin über Amazon nach und erstellen Listen mit verdächtigen Textpassagen. Daneben verkündeten dauerkritische Weltverbesserer nun ungeniert, dass es Hegemann einfach an Anstand fehle und ihre Themen ja überhaupt in Jugendliteratur nichts zu suchen hätten. Zurück zu Harry Potter bitte, der zaubert so schön. Selbst Bild Online titelte fassungslos »Warum hat die junge Autorin so viel abgeschrieben?«. Es klingt nach bieder‐bürgerlicher Empörung über abgekupferte Hausaufgaben.

Authentizitätsfalle: Lebendigkeit.
Letztlich muss man sich aber fragen, was hinter dem glühenden Eifer steht, mit dem jetzt unter dem Banner der Empörung zurückgerudert wird. Es steckt mehr dahinter, als nur der übliche Widerstand gegen einen weiteren Hype zurzeit kultureller Eintagsfliegerei. Zu einfach wäre es, den schamlosen Wutriraden an der Peripherie des Kulturbetriebes, schnöden Neid zu unterstellen. Natürlich hat Hegemann allein durch die berechenbare Aura des „Wunderkindes“ eine größere Reichweite als der anonyme Airen; auch über ihren Vater Carl Hegemann, seinerseits Theaterschaffender und Professor für Dramaturgie, eine bessere Startposition samt Zugang zu Verlagen wie Ullstein. Dabei ist Vitamin B in der Literaturszene nichts Ungewöhnliches; wir sind weit entfernt von gleichen Startchancen ‐ so what. Stattdessen sollte man herauszustellen, was die Literaturszene in Axolotl Roadkill zu finden glaubte:

»Demnächst werde ich irgendjemandem mutwillig fünfzig Löcher in die Lungengegend schießen, um den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen zu dürfen und um dann endlich kein Teil dieser Gesellschaft mehr sein zu müssen, in der man zu nichts anderem mehr verpflichtet ist als zu dieser ständigen Verantwortung für sein eigenes Ansehen.«

Die Sechzehnjährigen Mifti führt ein unangepasstes Leben, das der bürgerlichen Gesellschaft eine klare Absage erteilt. Eben Kritik von einer Außenseiterposition. Dazu kommen die auffallenden autobiographischen Parallelen (Alter, Schulprobleme, Soziales Umfeld, Vater als Kunstschaffender) und die unangepassten Themen um Kindesmisshandlung, Miftis Liebe zur älteren Alice, hartem Sex, Drogen und Gewalt und die alles thematisierende, nichts aussparende, Krassheit suchende Sprache:

»Stahl. Wodkapfützen, Körperteile, Münder, Haare, Schweiß, Leberflecken in Achselhöhlen, auf dem Oberarm einer PR‐Volontärin tätowierte deutsche Jagdterrier, rohes Fleisch und Stroboskoplicht. «

All das vermittelt eine Coming‐of‐Age‐Ahnung von Lebendigkeit am Rande des Abgrunds, von Authentizität, von echten Gefühlen, echten Problemen, fernab aller alltäglich unerträglichen Talkshows am Nachmittag. Hegemann schrieb dem verblödungsfrustrierten Kritiker quasi in Form und Inhalt aus der Seele. Endlich mal nicht die Wohlstandsgesellschaft, die Angst vor Terrorismus oder dem Überwachungsstaat oder die Vogelgrippe. Aber authentisch ist der Roman eben nicht ‐ Hegemann hat viele der beschriebenen Dinge nicht erlebt, sondern erfunden, recherchiert, abgeschrieben. Ist der Roman deshalb plötzlich schlechter, nur weil er die utopische Sehnsucht des Medienzeitalters nach wahrer Echtheit in letzter Konsequenz nicht befriedigt?
Dann ist da noch der Hype. Nach einem literarisch weitgehend unauffälligen Jahrzehnt war die Zeit einfach reif für einen Superstar. Die Parallelen zu Benjamin Leberts Crazy von vor dem Milennium sind überdeutlich. In Verbindung mit der vermeintlichen Authentizität beschwor man nur allzu gern den alten Geniebegriff des Sturm und Drangs. Auch damals in Weimar hat man kein Blatt vor den Mund genommen, keine Konventionen und keine Autoritäten geduldet, über Dreckiges und Unerhörtes gedichtet. Doch Goethe, Lenz und co. haben dem Zitat misstraut! Ihre Vorstellung des Genies, letztlich auch der moderne Begriff des Künstler/Autors ist noch immer verbunden mit der Idee der originären Schöpfung. Entlarvte freche Collagistinnen unter Plagiatsverdacht wollen da einfach nicht mehr ins Bild passen. Schnell wird also der selbst inthronisierte Genius gestürzt im Versuch die eigene Glaubwürdigkeit zu retten. Eine ambitionierte Autorin weniger, das kann man verkraften. Kommentar [AG3]: ästhetische Urteil über dem Vorwurf des PlagiatsIndirekt geschieht das andir auch. Der Roman samtnur im Ansehen gefallensich einer völlig legitimenhat: der Textmontage! sollte man ästhetisches Urheberrechtsverletzungtrennen.

Wider den Empörern!
Der Skandal ist natürlich Publicity, selbst für den unbekannten Airen und sein Strobo. Hegemanns Zitierweise jedoch ist sicher kein Zufall. Viel mehr beweist sie, dass die Autorin trotz aller Unkenrufe am Puls der Zeit denkt. Keine Verlagslandschaft ist so kreuzbieder und regeltreu wie die deutsche; keine westliche Kultur hadert so mit der Piratenpartei und modernen Sampling‐Praktiken. Das Internet nach Copyrightsündern durchfräsende Anwaltsheere sind schon jetzt an der Tagesordnung. Es geht schlichtweg um Geld, langsam wegbrechende wirtschaftliche Konventionen eines im Zeitalter von Google.Books wankenden Rechtes. Dabei wirft die Debatte um Axolotl Roadkill nichts weniger pathetisches auf, als die Frage, was Literatur heute dürfen soll. Wieviele prägnante Phrasen, wie viele Wörter eines Satzes müssen mit einer Vorlage übereinstimmen um Plagiat zu sein? Schon Hegemanns Erzähltechnik lässt dabei Zitate einfach einfließen, lebt vom Bezug und dem chaotischen Spiel mit Text und Kontext.

»‚Ist das von dir?‘ ‚Berlin is here to mix everything with everything, Alter? Ich bediene mich überall, wo ich Inspiration finde und beflügelt werde, Mifti. Filme, Musik, Bücher, Gemälde, Wurstlyrik, Fotos, Gespräche, Träume […] weil meine Arbeit und mein Diebstahl authentisch werden, sobald etwas meine Seele berührt. Es ist egal, woher ich die Dinge nehme, wichtig ist, wohin ich sie trage. «

Es klingt nach dem Kunstverständnis einer neuen Generation. Der Text könnte eine Vorreiterrolle einnehmen, doch Verlag und Autorin geben dem öffentlichen Druck bereits klein bei, verfassen Statements und kaufen Rechte nach. Die ‚Szene‘ hat sich längst distanziert. Da waren wir schon mal weiter mit der Progressivität: bei Duchamps Toiletten im Museum, bei Schwitters, bei Dada. Schade, eigentlich. Wer aber lernen möchte, wie man narrensicher ins Feuilleton kommt, sollte sich von dieser jungen Autorin eine Scheibe abschneiden. Selbst ihre YouTube‐Präsenz – Kinder die in einer Altbauwohnung altklug über Koks reden ‐ ist großes Kino, konstant provokant mit einer selbstbewussten Prise Ironie. So auch ihr Auftritt bei Harald Schmitt:

»Schmidt: ‚Du schreibst in deinem Buch, Technokultur, das geht gar nicht. ‘ […]
Hegemann: ‚Das ist wahrscheinlich nicht von mir, deshalb kann ich mich daran nicht erinnern. ‘“

Respekt dafür, immerhin.

Zitatmix aus.

Ich danke:
‐ Volker Weidermann, Faz.de
‐ lebenimzitat.de
‐ Spaghettimonster, lebenimzitat.de
‐ René, lebenimzitar.de
‐ Airen, Interview auf Faz.de
‐ GrandCru, lebenimzitat.de
‐ Syrasi, autorenforum.montsegur.de
‐ Helene Hegemann
‐ Gérard Genette
‐ Charlotte Roche
‐ Christian Kracht
‐ Benjamin Lebert
‐ Harald Schmidt
‐ Marilyn Manson
‐ allen Dadaisten
‐ RTL
‐ RTL II
‐ dem Internet
‐ und der französischen Revolution

Donnerstag, 22. April 2010

Erzählungen aus einem selbstgewählten Exil 1 - Eine Höhle

Atemlos kam ich an, durch den Sturm und den Regen. Mein alter Kompass in der erschöpften Hand zeigte Norden mit jedem fernen Blitz neu. "Wir haben uns verlaufen, treuer Freund", wollte ich ihm zuraunen, doch schon die erste Silbe erstarbe noch auf meinen Lippen, so als habe eine höhere Hand mit geboten zu schweigen. Welch Übel hatten meine Worte in der Heimat angerichtet, wie viele Leben beeinflusst bis meine eigene Existenz in ihren Zweideutigkeiten zu verschwinden drohte. Ja, ich floh dem Chaos der Sprache zwischen den Menschen und allem, von dem ich glaubte, das es mir - und dem ich teuer gewesen war, hinaus, fern aus an einen Ort den ich zuvor nur auf der Karte berührt hatte. Nacht wars, als ich aufsah, sprechen wollte und stumm blieb. Da erspähte ich hinter einer Anhöhe einen Berg und ein Tal und wusste, dass ich da war, obgleich es auch das Tal nebenan hätte sein können und kein besonderes Zeichen mir diese Gewissheit verriet, außer dem unausgesprochenen Wunsch, der Weg möge ein Ende haben. Aus Schutz vor der mangelnden Gnade des Wetters suchte ich eine Höhle auf, dessen Vorbesitzer vermutlich ein simples Tier gewesen war und kroch hinein um die Beine an den ausgekühlten Körper zu ziehen. "Da" hallte mein erster Gedanke noch nach, als reite er auf dem Donnern des entfernt gebliebenen Gewitters. "Da. Da. Da." Nach Monaten der Unruhe und Stunden des Suchens empfing ich voll Dankbarkeit den Schlaf, der über mich kam, um mich aus der Einsamkeit mit meinen Gedanken und Erinnerungen zu befreien.

Re

... am Anfang ist das Wort immer schwer. Jeder Buchstabe wiegt das Gewicht des vorgehenden Schweigens und der Leere. Schlimmer ist es noch, wenn sich kaum ein Punkt auftun will anzuknüpfen. Wie soll man auch anknüpfen an gestaltloses Chaos und schlechte Poesie? Fast vier vertane Monate sind ins Land gegangen, ein Monat erstickender Stille. Wie gern wär ich ein Mensch der seine festen Ziele seit frühester Jugend verfolgt; ein wenig stur, etwas eindimensional, zufrieden. "Gibt es einen Himmel für ungehörte Schreie?", sang einst Tory Amos in den späten Neunzigern. Ich habe ihn nicht gefunden, aber der atemlos aufgekratze Unterton erinnert mich an jene Unausgewogenheit der hinter mir liegenden Zweifel, deren Wiederaufleben ich um jeden Preis vermeiden will. Ich bestreite mein Leben in Fürth für eine Weile, in Regelmäßigkeit, in Arbeit, allein. Nur die wenigen Telefonate halten mich über Wasser. Aber die offensichtliche Oberfläche muss langweilen. Ich verwerfe die Ansätze des Wirklichen. Es ist höchste Zeit für eine Fiktion ...

Freitag, 5. Februar 2010

There must be some way out of here ...

"There must be some way out of here; has been one ev'ry time!"
I repeat it to myself again, but I just can't see the line.
Time is not a healer, time's a changer in slow-dance. For sure
review will show one story; but the meaning is by chance.

"Don't get lost with the driftwood", my
echo coyfully spoke,
"This all will end soon enough and the punchline is mere a joke.
So will you please not rest your head, in lies of dreams and despair,
The brave will fall in dumbness, and only whistlers be crowned
the fair."

All along on this winding road, flee the dancers into the dark,
Stolen faces alternate, on top of reloaned ancient arks.
I'm looking out in the distance, for an untouched flickering light,
But all the signs are sleepy now, an the traces hidden right.

Ein Fluch

Die Stunden des Abends waren längst gekommen. Da saß ein Mann ganz in der Nähe der Tür und hielt ein mattes Glas in dem ein Rest nur schwenkte. Er war allein und sprach doch, als sei er es nicht:
„Du. Wie glaubte ich an Dich in der Jugend. Wie sehnte ich mich nach dem Geruch und den Lippen. Wie trunken ließ mich ein Blick werden, oh und wie gierig trank ich aus deinem Kelch; er wollte nie enden, erinnerst du dich? Du sagtest das, was nicht sein kann mit Süße, dieses „niemals“, dieses „jetzt“ und auch das „immer“ sagtest du oft. Und ja, selbst im Schmerz warst du mir zärtlich und nicht unwillkommen zuweilen … Oh, du Heuchlerin! Heute - ja heute! – erkenne ich aus den Eigenen die Falten auch in deinen Zügen. Wo sind all die verlorenen Jahre die du mit dir nahmst? Kannst du sie noch sehen, die Nächte unter den Sternen, wo wir beide alles aufgaben und Hoffnung waren, gemeinsam und darüber hinaus nicht mehr? Oh, ich weiß, du kannst. Genießt du noch heute die bitteren Tränen auf den Decken und Kissen und die zerredeten Tage. Auch die Dornen sind Teil der Rosen, flüsterst du wie ein Geheimnis? Schweig mir, ich verlange es einmal: Wage es nicht, die Verrücktheit zu benennen, die wie gemeinsam lebten. Wankelmütige Blenderin! Dir zu trauen heißt Wind zu trauen, dass er bleibt. Waren wir aber nicht immer fort, als der eine nach dem anderen fasste. War das Dir nicht höchstes Vergnügen mit mir? Oh, du Grausame! Und wir Sänger preisen noch dein Spiel und schmeicheln nur um es einmal … nur einmal … und verdingen uns so noch als deine Häscher, deine Huren. Zähle mich nicht mehr dazu! Ich verweigere den Dienst an dir, Elende, und wende mich anderen Göttern zu, dunkleren, die deinen Platz fordern. Nicht weiter! Ein Fluch her … verflucht seiest Du … ein Fluch ja, ein Fluch auf die Liebe!“ … … …
Seine Worte verklingen so, wie nur gesagte Worte es tun, wenn ihnen Raum gelassen. Eine Antwort erwarten sie nicht. Er ist noch derselbe und spürt noch immer diesen stummen Hauch, der seine Kehle hinab nach dem Herz greift, wie nur wirksame Gifte es tun. Sieh doch, es ist vergebens, das Streben des Menschen ihrer Herrin zu trotzen. Auch er weiß es und so hebt er das matte Glas zum Mund und leert es ganz.

Mittwoch, 20. Januar 2010

Die Angst vor Veränderungen

Ein Leben kann 'stabil' aussehen oder auf bestimmte Punkte zulaufen, von denen wir selbst nicht ahnen, wie sie genau aussehen. Manchmal macht uns das für eine Zeit lang glücklich, manchmal ist es kaum mehr als ein Absitzen von Zeit mit der geheimen Hoffnung es möge sich etwas ändern. Insgeheim wünscht sich mancher vielleicht weniger allein zu sein, etwas zu erreichen oder auch nur etwas neues zu sehen und lässt sich ablenken vom Alltag und den täglichen Sorgen die sich stets drängender geben als die tiefen Wünsche und Hoffnungen. Warum glaubt man, dass es gut ist, wie es ist und bisher immer war? Ist es Feigheit Dinge nicht verändern zu wollen? Beziehungen und Freundschaften müssen sich anpassen um Schritt halten zu können, im besten Fall werden sie zu seltenen Ruhepolen im Meer der ständig fortschreitenden Zeit. Doch alles verändert sich, immer: das ist Leben. Inseln werden abgetragen, andere bleiben nur geahnt oder gänzlich unentdeckt. Am Ende jedenfalls bleibt nichts, wie es war. Die Kunst dabei ist, nicht nur im Moment zu leben, sondern am Ende der Geschichte mehr richtige als falsche Entscheidungen getroffen zu haben und vielleicht ... nicht ganz allein zu sein.

Montag, 18. Januar 2010

Abendschwelle

An der Abendschwelle treffen sie sich wortlos.
Höheres Gebot zwingt Gehorsam auch von diesen beiden.
Der Tag folgt brav und tritt ab. Ausgedient und Pünktlich.
Die Nacht jedoch ist anderen Gemüts, kaum zeigt das Rot der Freiheit sich
war sie nie fort, hat dösig nur gelauert.
Steigt nun empor, entfaltet den dunklen Mantel, der ihr eigen,
sich den Platz zu nehmen, den sie dem Tag doch nur geliehen.
Nacht, süßeste Nacht. Lächle nun, es ist Zeit.
Am Morgen wirst du trunken sein von all dem Treiben,
Voll doch nicht zufrieden wirst du schleichen, selbstgewollt
dem Frühaufsteher weichen und Katzenhaft dir kleine Wunden lecken.
Bis dahin aber lass es zu, dass wir dein Gast sind, werd du uns Bühne, angeschlagne Königin, nimm uns mit auf deinen Bahnen,
wir woll'n dir folgen und preisen deine Kinder, deine Mienen.

Donnerstag, 31. Dezember 2009

Über die Dämonie der Liebe ...

Ist es in der Liebe nicht ganz ähnlich?
In einer käuflichen Welt scheint den eigenen Gefühlen etwas tiefgründiges anzuhaften. Liebe als Königin aller Gefühle im Versprechen auf Glück, gilt als höchstes Gut, ist das gewinnträchtigste Werbemotiv. Nur in der Liebe finden viele Menschen noch die ersehnte Intensität, doch die meisten werfen enttäuscht das Handtuch, sobald der Rausch der ersten Stunden nachlässt. Einerseits sehnen wir uns nach Geborgenheit eines gleichberechtigten Anderen, andererseits verlangen wir die erotische Aufregung des ersten Kennenlernens. Fast immer steht das "Ich" im Vordergrund, geht es um die eigenen Bedürfnisse. Doch wer den Mensch als Maschine denkt, hat es noch vergleichsweise einfach im Umgang mit dem schlagenden Muskelstück in seiner Brust. Denn ist man so töricht sich darauf einzulassen, daran zu glauben, zu lieben und danach zu suchen, unterwirft man sich einem "Anderen im eigenen Ich". Schon Goethe wusste eindrucksvolle Bilder zu finden für dieses "Lebendige (...) dass nach Fammentod sich sehnet." So wird Liebe zur gewaltigen Triebkraft des Menschen, mühelos fähig das Eigene für das Andere, eine "fremde Fühlung" zu riskieren, bedeutete es selbst den eigenen Untergang - das Symbol des an der Kerze verbrennenden Schmetterlings. Für Goethe bedeutete dies trotz langer und glücklicher Ehe intensive Liebesgedichte zur verheirateten Marianne von Willemer zu schreiben, die heute im "West-Östlicher Diwan" als lyrisches Meisterwerk gelten.
Auch Shakespeare wusste darum, standen doch Romeo und Julia - mit ihrer Liebe über alle Schranken und alle Vernunft hinweg - Pate für die Liebe der Moderne. Ist es für Romantiker nicht immer die 'wahre Liebe' zu Beginn? Ist dieser Glaube nicht fast Notwendig um die eigenen ersten Schritte zu rechtfertigen, trotz realerer Situationen und Beweggründe, Einsamkeiten, Schwächen und Sehnsüchten? Muss der Einzelne sich nicht auf den Wahn einlassen, will er auch teilhaben am Glück der Verliebten, will sein Herz schlagen hören, will sich berauschen an Liedern über jenes Gefühl und nachts mit Gänsehaut wach liegen und den Mond anschauen, wie in den Filmen? Was um den Preis der Liebe zu riskieren, was auf dem Weg zur vermeintlichen 'Wahrhaftigkeit' niederzutreten ist, bleibt letztlich jedem selbst überlassen. Der Tod der großen Liebenden in Shakespeares Tragödie kann auch erklärend gelesen werden: die Wahrhaftigkeit der Liebe ist ein endliches Risiko.

(Leben, Teil 2 von 2)

Über die Sehnsucht nach Glück ...

"Das Herz ist trügerisch." Wäre dies keine Weisheit, müsste man sie erfinden. Das Christentum lehrt bis heute das Misstrauen gegenüber seinen Gefühlen, die Herrschaft des Willens über Laster und Lust. Der moderne Mensch aber hat sich weitgehend davon emanzipiert. Entscheidungen werden gern 'aus dem Bauch' heraus getroffen, Seminare drehen sich darum die 'innere Stimme' zu finden - als sei dies ein Weg zu höherer Wahrheit - und irgendwo zwischen menschlicher Gier und Esoterik haben ganze Generationen das persönliche Glücksgefühl zum Lebenszweck erklärt. "Glücklicher in drei Minuten", "Glücklicher mit dem Dalai Lama", "Der Glücksratgeber", "Glück für Anfänger", "Glücklich für Dummies", die Absatzzahlen steigen, besonders im Weihnachtsgeschäft. Ist dieses eigentlich christlich besetzte Fest heute nicht Inbegriff eines angenommenen 'Rechts auf Glück und Frieden'? Wie anders sieht die Realität aus: gehetzte Menschen in langen Schlangen stehen für buntverpackte Geschenke an. Jedem mindestens eins, sonst fehlt etwas unter dem Lamettabaum. Anstatt Besinnung sieht man auf dem Weihnachtsmarkt die karnevaleske Fett- und Zuckererlösung vom jährlichen Diätwahn. Dann, am Abend, lächelt die eben noch zerstrittene Familie vor dem Fernseher über den Coca Cola Weihnachtsmann. Und immer ist das Herz mit dabei, will mitmachen am Gefühl, will auch etwas haben vom großen Kuchen, will sich glücklich fühlen. Es Weihnachtet doch so sehr.

(Leben, Teil 1 von 2)

Montag, 9. November 2009

Morbus Kitahara

Es ist der 9. November, ein historisches Datum für Deutschland, ohne Frage. Es gibt immer viel zu erinnern in diesem Land. Man feiert in Berlin den Mauerfall. Der Zeitgeist steht mit in allen Reihen; Thomas Gottschalk moderiert vor vollen Straßen eine Inszenierung von Massenwirksamkeit und Symbolik. Bemalte 'Mauersteine' formen eine riesenhafte Dominoreihe zum Brandenburger Tor. Die Akteure von Damals warten sie anzustoßen. Selbst die sonst so hektischen Kameras geben sich ergriffen und verbleiben lieber auf Menge. Vereinzelt sieht man Feuerzeuge. Deutschland flirtet mit dem Nationalgefühl - und jeder rollt es an diesem Tag gern über die Zunge, dieses Wort, die Bundeskanzlerin gar häufig in ihrer Rede, das flügeltragende Wort, das Große :
Stammt es aus Frankreich?
Stammt es aus Amerika?
Wer hat es sonst noch gerollt auf den Zungen und zu welchem Takt?
Bemüht betont man freilich, dass am 9. November noch anderes passiert sei, Unbequemes, Schreckliches, damals halt. Das will nicht passen zum Tag des Mauerfalls wie zu keinem. Und so wird sie halt genannt, dieReichskristallnacht schnellerwähntdannhatmandasauch. Und vorgestern fand man Parolen auf Synagogen ,wie passend. Da, wo die Löhne so niedrig sind. Wie Graffiti sahen die aus, wie das Graffiti auf den Dominosteinen.
Ach sie fallen jetzt. Die Mauer fällt.
Die Mauer fällt,
lasst uns schnell hinsehen.

Dienstag, 3. November 2009

Drei Gedanken zur Struktur von Subkulturen

Der Goth von Nebenan lebt in seiner eigenen Welt - einer Welt, welche mit eigenem Kleidungsstil, Musikrichtung und Verhaltensnormen aufwartet - einer Subkultur. Die Neigung sucht die passende Nische, nur weg vom gern kritisierten "Mainstream". Jeder Subkultur ist dieses "Gegen" und "Neben" zu Eigen. Der Vergleich einer raren, dem Eigenen zugeordneten Menge gegenüber einer schwer abgrenzbaren Masse mit (kultureller) Machtposition scheint Quell der persönlicher Befriedigung zu sein und bedient zahllose Topoi von schnödem Rebell bis progressiver Avantgarde. Der dahinterstehende Gedanke ist "differenzbedingte Exklusivität" (das Zeitalter der Individualisierung lässt grüßen). Diese Differenz wird in Subkulturen jedoch nicht persönlich erarbeitet, sondern weitgehend an den Mustern und Normen der Subkultur ausgerichtet. Affirmation ist dabei wichtiger Teil der Zugehörigkeit und strukturell in Subkulturen angelegt. Gerade in der Adaption fester Identifikatonspunkte offenbart sich aber der konservative Charakterzug des Ganzen. Der Einzelne tauscht das Anonyme des kulturellen "Hauptbereichs" gegen eine beschränktere und spezialisierte, wie auch uniformiertere Alternative.

Die Durchdringung der Gesellschaft von Subkulturen lässt die Frage legitim erscheinen, ob von der eigentlichen "Hauptkultur" noch mehr übrig ist als eine in medialer Behauptung erhaltende Schnittmenge diverser Subkulturen als eigentliche orientierungstragende Elemente. Das "Gegen" einer Subkultur liefe in diesem Fall zunächst ins Leere und ließe sich umdeuten als gegen die Idee einer einheitlichen "Haupt- oder Leitkultur" gerichtet. Oder ist die "Idee" einer "Gemeinkultur" letztlich doch bloß eine Vereinfachung komplexer ineinandergreifender dynamischer Einzelsysteme mit zunehmender Vernetzungstendenz bedingt durch medielle Fotrtschritte (z.B. Internet)?

Subkulturen können auch begriffen werden als scheinbare Ausgrenzungen der Gesellschaft zur Selbststabilisierung. Das kulturpolitische Reformpotential des "Gegen" eines Individuums verliert sich dabei im akzeptierten "Neben" einer Subkultur. Dabei haben sich längst Systemelemente zur Destabilisation solcher Subkulturen etabliert, die ihrem Selbstverständnis nach noch blinde Flecken der Gesellschaft darstellen. Das Aufgreifen von Motiven und Identifikationsmerkmalen in verbreiteten Medien (z.B. Film, Literatur) macht auf die Subkultur aufmerksam und reimportiert deren Faszination als kurzlebige Trends. Die Exklusivität der Subkultur schwindet und stört damit die auf "Gegen" beruhende Identifikation. Eine Abwanderung in andere benachbarte Subkulturen oder die Bildung neuer Subkulturen ist die Folge.

Der Fall Alex W.

Der Hartz-IV-Empfänger Alex W. stach in einem Dresdner Gerichtssaal auf die Ägypterin Marwa al-Schirbini ein, tötete sie und verletzte den Ehemann schwer; nun steht er vor Gericht. Es ist ein Fall unter vielen an deutschen Gerichten. Was empören sollte ist die offenbare Unfähigkeit der Gerichtsdiener die Tat zu verhindern, mangelnde Sicherheitskontrollen die die Tatwaffe - ein Küchenmesser - übersahen oder der Polizist, welcher noch auf den schwerverletzten Ehemann der Ermordeten schoss. Leider treten diese Details hinter die erwartungsgemäße politische Aufladung des Falls zurück. Zwar geschah der Mord mit hoher Wahrscheinlichkeit aus Ausländerfeindlichkeit, doch es entbehrt jeder Pietät vor dem Einzelschicksal Angeklagten und Opfer zu Symbolfiguren für Völkerbeziehungen oder gesellschaftliche Trends zu stilisieren. Doch Medien im In- und Ausland und ihre Kommentare tun genau das, missbrauchen den Fall als Diskurspunkt über Islamophobie und Kulturschranken. Nur eins tritt dabei deutlich zwischen den Zeilen hervor, nämlich das noch immer gestörte Verhältnis hierzulande zu Migration und Fremdenhass. Alles scheint plötzlich wieder präsent: Ehrenmorde, Mohammed Karikaturen, Synagogenbrände, der 11. September, Holocaust. Der verweigernde Unmut der "Nachgeborenen" trifft auf international erinnerte Schuld des "Volks der Täter". vor dem Hintergrund einer strauchelnder Integrationspolitik. Untaten gegen Untaten aufzurechnen ist natürlich von absurder Unverhältnismäßigkeit und entbehrt jedem Verständnis für die tatsächlichen geschichtlichen wie psychologischen Vorgänge. Schlimmer noch vermischt es zu differenzierende Radikalismen und verhindert in der Dämonisierung Möglichkeiten der konstruktiven Entgegnung. Es wäre zu wünschen, wenn das bestehende Medieninteresse in einer öffentlichen Aktualisierung des Kulturdiskurses in Deutschland münden würde, oder wahlweise so schnell vergeht, wie es aufgebauscht wurde. Das Alex W. einem fairen Gerichtsverfahren ausgesetzt und mit hoher Wahrscheinlichkeit für seine Tat vor dem Rechtsstaat entsprechend Bestrafung findet wird, versteht sich dabei von selbst.

Sonntag, 27. September 2009

Alle Jahre wieder (2009)

Alle Jahre wieder ist es soweit. Die Karten werden neu gemischt und alle Sünden vergeben. plebs dixit, das Volk hat gesprochen - Zeit für ein kurzes Fazit. Erst mal die blanken Zahlen: CDU 33.9%, SPD 23.0%, FDP 14.6%, Linke 11.9%, 10.7% - rekordverdächtig, insbesondere der Tiefstand von CDU und SPD, den ehemals großen Volksparteien. Regelrecht abgestraft wurden die Sozialdemokraten mit 11,3 Prozentpunkten Verlust zur Wahl 2005. Historisch ist die Wahl in Bezug auf die demokratische Struktur zu nennen, da sich mit der Linken eine fünfte Partei etabliert hat. Der Sieger steht fest, ist Gelb und strahlte mit triumphalem Lächeln in der obligatorischen Elefantenrunde alle anderen an die Wand. Warum die Deutschen in der systemgeschuldeten Finanzkriese ausgerechnet die Liberalen gestärkt haben, bleibt vielleicht das Rätsel des Abends. Katastrophal jedoch ist eine andere Zahl, nämlich die der Nichtwähler, satte 27,5%. Über ein Viertel der Bürger wurden vom matten Wahlkampf nicht erreicht oder zogen es vor der Demokratie ihre Stimme zu enthalten. So ist das Ergebnis der Wahl auch zu lesen als Vertrauensverlust aller Parteien (pikant in diesem Zusammenhang, dass ausgerechnet Guido Westerwelle noch am Abend auf journalistische Nachfrage bekanntgab kämpferisch formulierte Wahlversprechen in Koalitionsgesprächen zu "verhandeln"). Ein eher geschmackloser Werbespot auf Kabel 1 gab der Wahlverdrossenheit in den letzten Tagen sogar einen eigenen Slogan: "Nichts für sie dabei?" Man mag es nun glauben.

Samstag, 19. September 2009

Vermeintlich verlorene Perspektiven

Erneut ein Amoklauf an deutschen Schulen. Der Name ist austauschbar geworden. Ich spreche mit meiner Großmutter darüber. Wie zu erwarten in ihrer Generation vermutet sie sogleich das 'Schlimmste': ["Wahrscheinlich aus dem 'Milieu' - Drogen müssen im Spiel gewesen sein - Jugendkriminelle - "sicher Ausländer"!].
Mitnichten. Wieder beweist sich, dass die jugendlichen Amokläufer meist in bürgerlichem Milieu, fern der konkreten Existenzbedrohung verwurzelt sind. "Unauffällig und ruhig" ist das neue Täterbild. Gruselig. Mein Freundeskreis ist voll davon. ["Dann sind die Computerspiele Schuld! Da sehen sie doch die Gewalt! Kino! Oder diese Popmusik!"].
Es ist schon etwas dran an der zunehmenden Darstellung von Gewalt in Medien. Der Schockfaktor zieht natürlich immer noch Käuferschichten an und Lars von Trier darf sich austoben ... und es ist Kunst; welch Wunder. ["Das kommt doch alles aus Amerika! Da fing das doch an."]
Tatsächlich muss sich die detailreiche Berichterstattung über Littleton - um den Schockzustand einer Gesellschaft zu bewältigen - in Grenzen vorwerfen lassen die Option solcher Gewalt in Jugendliche Köpfe gespeist zu haben. Schulmassakker: ein kulturelles Massenphänomen - wie die Hysterie? Die Erklärung scheint auf der Hand zu liegen. Doch es bleibt letztlich die Ratlosigkeit des Einzelnen. Sie findet ihre Entsprechung im Verhalten der Medien in gutrecherchierter Deutungslosigkeit zu verbleiben. ["Ja aber was haben denn die Kinder dann? Sie haben doch alles. Warum ticken sie denn so aus?"]
Das Problem liegt nicht in der tatsächlichen Lebenssituation, sondern in der Wahrnehmung derselben. In einem Land, das juristisch den Abschreckungseffekt leugnet und politisch sich der naturgemäß sozial-ungerechten Wirtschafts- und Bankenwelt anbiedert, während es sie formell und öffentlich geißelt, müssen die Werte für "Richtig" und "Falsch" durcheinandergeraten. Die Täter entscheiden sich bewusst für ein "Gegen", gegen ihre private Umwelt aber auch gegen die soziale Allgemeinheit. Ihre Handlungen rechtfertigen sie oft mit dem Willen, "unerträgliche Ungerechtigkeiten" zu bestrafen - als Selbstjustiz, als schnöde Rache. In "Kinder brauchen Märchen" von Bruno Bettelheim heißt es: "Wie groß die (...) Verzweiflung des Kindes in Augenblicken völlig hoffnungsloser Niederlage ist, erkennt man aus seinen Wutausbrüchen; sie sind der sichtbare Ausdruck seiner Überzeugung, es könne nichts unternehmen um seine 'unerträglichen' Lebensverhältnisse zu verbessern." Die Welt, die Umwelt und auch jene Parteien, die in einer Woche zur Wahl stehen erreichen sie nicht mehr. Auch mehr Schulpsychologen werden daran nichts ändern. Die Tragödie nimmt ihren Lauf. Beendet wird sie erst mit einem großen Umdenken werden.

Dienstag, 15. September 2009

Die eigene Zeit

Manchmal erscheint es unendlich langsam, wie die Zeit dahin quillt. Tage wiederholen sich, Stunden scheinen träge nie an einem vorbei ziehen zu wollen und in einer Handvoll Minuten glaubt man ein halbes Leben verlebt zu haben. Dann gibt es Tage in denen die Zeit einem durch die Finger rinnt unaufhaltsam wie feinstkörniger Sand. Kaum ist man aufgestanden, legt man sich schon wieder nieder und hat doch nicht mehr getan als an anderen Tagen in wenigen Augenblicken. War ich vorgestern nicht erst fünfzehn und trank einen Tequila Sunrise, abends auf den Kanaren, während ich an das Mädchen mit dem grauen T-Shirt dachte, das am Pool lag und las? War ich gestern nicht erst im Blumenladen in meiner Heimat, ungeduldig wartend auf den Strauß für den Abschlussball und in Gedanken beim Lächeln, das der Dank dafür sein würde? Zeit ist subjektiv; doch scheint mir zunehmend als unsichtbarer hämischer Feind, niemals großzügig genug und niemals schnell genug vorbei zu sein. Wie (vielleicht) Marcel sich wohl gefühlt haben mag, als er am Ende seines fiktiven Lebens zum Schreiben in Retrospektive fand? Was anderes ist selbst dieses Blog als eine Hilfe zur Einteilung meiner erlebten Zeit in Momentaufnahmen aus Sprache vor einem gedachten Publikum. Einzig das tägliche Rauschen des Radios und das Geplapper der Nachrichten gibt einen zwingenden Takt vor: Finanzkriese, Bundestagswahl, Januar, September, gestern, heute. An den kleinen Schrecken und großen Ungerechtigkeiten erahne ich das Drehen der Welt, das unaufhaltsame Fortschreiten der Zeit.

Dienstag, 18. August 2009

Schon wieder Rekorde...

Usain Bolt hat schon wieder einen 100 Meter Lauf gewonnen. Doch nicht irgend einen, sondern den Lauf der Leichtathletik-WM 2009 und nicht irgendwie, sondern mit Weltrekord von 9,58 Sekunden. Das entspricht 44,72 Km/h mit leichtem Rückenwund und erweitert die Vorstellung vom Menschenmöglichen. Natürlich ist Bolt ein Ausnahmetalent, doch die fast selbstverständlichen Zweifel in einer Zeit der Dopinskandale nagen an seiner herausragenden Leistung. Die Unschuldsvermutung scheint spätestens seit Jan Ulrich nicht mehr zu gelten. Der Leistungssport hat endgültig das saubere Image eingebüßt, so dass sogar Einzelne wie Robert Hartings frustriert überlegen "ob es nicht besser wäre, Doping in irgendeiner Form zu erlauben." Doch das Problem ist fundamentalerer Natur: im antiken Griechenland zählte - sofern wir wissen - der Wunsch mit der Leistung des Einzelnen den Göttern zu gefallen. Heutzutage freilich sitzen die 'Götter' vor den Fernsehern und im Stadion und suchen narzisstische Bestätigung der eigenen Spezies in den erbrachten Leistungen einiger herausragender Vertreter. Dabei ist Usain Bolt nicht bloß ein begabter Läufer, sondern ein professionell 'gemachter' Superathlet mit einem Stab an Trainern, Beratern und Managern. Längst zählt nicht mehr nur der Mensch an sich. Die naive Illusion eines 'Helden aus eigener Kraft' muss enttäuscht werden. Leistungssport bietet nicht mehr die Attraktivität einer vermeintlich 'ehrlichen', anachronistischen Gegenwelt zur vermeintlich 'unehrlichen' Gesellschaft und ihrer Querelen in Politik, Wirtschaft und Medien. Es ist nicht weniger als diese grundlegende Verunsicherung, die im Zweifel an Bolts Leistung zum Ausdruck kommt und im Dopingstreit ihr Ventil findet.

Zusatz: Nur, weil ein Ideal nicht gelebt wird, heißt das noch nicht, dass es abzulösen ist. Der Anschein von "Ehrlichkeit" und "Fairness" muss schon um seiner selbst willen verteidigt werden. Es zählt also weniger die Tatsachen des Dopings, als dessen kulturelle Bewertung. Jene, die eine Legalisierung des Dopings fordern, fordern damit die Bestätigung einer Doppelmoral, welche mit Gesundheitsprodukten wirbt und gleichzeitig die Gesundheit der eigenen Athleten mit Medikamenten riskiert. Gerade der Sport aber in seiner sozialisierenden Sonderfunktion für Jugendliche, muss davor geschützt werden.

Donnerstag, 13. August 2009

Das scheinbare Aussterben des gemeinen Menschenrechtlers

Es passiert in Kenia, Tschetschenien, Birma, China oder Russland. Der "gemeine Menschenrechtler" verschwindet von den Straßen dieser Welt. Ein ganz besonderes 'Fehlverhalten' führt zu seinem Niedergang, nämlich der Mangel an Anpassungswillen an seinen zunehmend unverhohlen feindlichen Lebensbereich. Gerade in Auflehnung gegen die Missstände seiner erlebten Umwelt wird ihm seine überdurchschnittliche Intelligenz, Mut und soziale Verantwortung zum Verhängnis. Sein unbeirrbarer Glaube an die Menschenrechte als kulturelle Errungenschaft verliert in der Realität den Kampf gegen anachronistisch anmutende Gewalt, religiösen Fanatismus und machtpolitischen Willen. "Ja, aber warum wehrt sich der Menschenrechtler nicht?", mag ein naiver Hobbybiologe fragen. Die Antwort ist fatal: Weil er aus Überzeugung bereit ist sein eigenes Leben im Dienst für die Zukunft seiner Artgenossen zu riskieren, ja selbst jener, die ihm heute noch Feind sein wollen oder es einfach nicht besser wissen. In seinem eigenen Schicksal vollzieht sich eine Begegnung von Zivilisation und Barbarei. Sein scheinbares Aussterben markiert Deutlich felltragende Keulenschwinger in einer Zeit, in der allein Anzug getragen werden will, für den schönen Schein und die ausländischen Investoren. All jenen modernen Barbaren hält er einen Spiegel vor und zeigt ihnen deutlich, was sie zu opfern bereit waren und ist ihnen deswegen so unbequem, so feind, ja so natürlich verhasst. Doch zum Schluss ein wenig Hoffnung: der Menschenrechtler lässt sich nicht Ausrotten, noch wird er Aussterben, wie auch Verstand und Mitgefühl nicht verschwinden werden, nicht verschwinden können, wenn der unwahrscheinliche Fall nicht eintritt und der Mensch an sich nicht zurückkehrt in jene Zeit von Feuer und Höhlen. Dankbarerweise wächst und lernt sein Nachwuchs in Ländern, in dem er unter Artenschutz steht.

Mittwoch, 29. Juli 2009

Der Reiz fantastischer Exklusivität

Harry Potter hat es, Frodo Beutlin hatte es bereits vor ihm und auch Bella Swan scheint reichlich damit gesegnet. Ob es darum geht den bösen Voldemort zur Strecke zu bringen, ganz Mittelerde auf einen Schlag zu retten oder nur den glitzernden Vampir der eigenen Träume zu finden, die Rede ist vom großen Wink des Schicksals. Moderne fantastische Literatur muss sich den Vorwurf gefallen lassen, kaum Geschichten ohne dieses spezielle Etwas zu fabrizieren, manchmal mit mehr, manchmal mit weniger starkem Aufguss einfallsloser Schemata. "Man muss sich halt darauf einlassen", doch das wahre Leben der meisten Leser sieht anders aus: leicht angeknackste Familie, durchwachsene Jugend, Minijobs und Praktika, Schulabschluss, Ausbildung oder Studium, vielleicht ein oder zwei spannende Hobbys; die wenigsten Lebensgeschichten erheben sich über diese langweilige Durchschnittlichkeit. Was Frodo, Harry und Co bieten, ist Teilhabe an ihrem Auserwähltsein für die Dauer der Lektüre (oder bis zum Abspann des Films,) Streicheleinheiten fürs das Ego ihrer Rezipienten, fiktive Exklusivität. Zurück bleibt die unausgesprochene Hoffnung selbst einmal im Fokus jenes irrationalen Glücks zu stehen; derselbe Mythos den auch Castingshows, Trendscouts oder die Lotterie zu eigenen Zwecken fleißig befeuern. Auf dem Papier erbt Frodo Beutlin den einen Ring, Bella Swan einen unwiderstehlichen Duft für benachbarte Blutsauger und auch Harry Potter bekommt die berühmte Blitznarbe in die Wiege gelegt. Der Wille unerklärlicher höherer Macht ersetzet den modernen Leistungsgedanken und bildet eine anachronistische Gegenwelt zum erlebbaren Alltag, beherrscht von finanziellen Kriesen und ermüdendem Wahlkampfgerangel. Vielleicht ist dies Teil der Erklärung für die anhaltende popularität jener Werke. Doch anders als den Märchen von einst fehlt ein die Leserwelt bereichernder Transfer, die "Moral der Geschicht", stattdessen muss die der Fiktion innewohnende vermeintliche 'Lehre' in der Wirklichkeit scheitern. Der großen Masse aller Leser werden weder Reichtum, Ruhm noch privates Glück zufallen, solange sie nicht bereit sind unaufgefordert und unausgewählt Eigeninitiative zu zeigen. Im Vorteil scheint nur, wer die Welten auseinanderzuhalten weiß.

Mittwoch, 24. Juni 2009

Iran und die Demokratie

Hoffnung und Erwartung internationaler Medien stimmten noch vor einem Monat überein, dass Mir Hussein Mussawi Präsident der Republik Iran werden könne. Nach dem 12. Juni und den deutlichen 62,6 zu 33,8% aller Stimmen blieben nur Reaktionen gelähmter Ratlosigkeit. In Blogs und Foren traute man Mahmud Ahmadinedschad, den Ayatollahs, ja "den Iranern" im Allgemeinen, alles zu. Was weiß man nicht alles über das fundamentalistisch repressive System von CNN, über unterdrückte Weiblichkeit aus Persepolis, über eine Gesellschaft in Erstarrung aus Nasser Refaies "Sobhi Digar"? Doch dann begannen die Demonstrationen, zogen von den Straßen über Mattscheiben, Sendemasten und virtuelle sozialen Tummelplätze hinein in das Bewusstsein europäischer Öffentlichkeit. Ein neues Iranbild lässt sich erahnen, das Bild eines Landes im Kampf auf der Straße. Und der Europäer, der Amerikaner, der Weltbürger demonstriert mit, ist mit dem Herzen dabei, in Teheran, live dabei direkt neben Neda Soltani und hält buntbemalte Transparente trotzig den Wahlbetrügern, den Unterdrückern, entgegen (im Kopfkino und ganz ohne Riskiko, versteht sich). Ja, im Iran weht der Wind junger Demokratie mit Inhalten, Zielen, Werten und mit einem klaren "gegen". Erst Obama, dann der Iran, dann die ganze Welt? Gemach! Der Wächterrat wäre auch bei einem Machtwechsel unangetastet geblieben. Die Verflechtung von Politik und Religion, wird (eine blutige Revolution ausgenommen) auch in Zukunft den Iran bestimmen. Vielleicht ist das einzige, was sich ändern wird, die Fremdwahrnehmung des Landes. Doch auch dies ist in jedem Fall zu Begrüßen.

Sonntag, 7. Juni 2009

Stille

Gänsehaut erfasst mich, als ich Elie Wiesels Rede lese, gehalten vor Barack Obama in Buchenwald. Der Ort an dem der Vater starb. Vielleicht der Ort an dem unser aller Vater starb. Celan drängt sich wieder empor. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland, das ist unbestritten. In klaren Worten redet Wiesel über Ihn, über Ungerechtigkeit, Krieg und Verantwortung. Seine Sprache berührt, spricht Gedanken aus, die mehr sind als die Gedanken eines einzelnen, so als klängen die Toten selbst in ihnen mit.
"Die Zeit ist doch gekommen. Es reicht doch. Es reicht. Wir wollen nicht mehr auf Friedhöfe gehen. Es reicht. Es gibt genug Waisen, es gibt genug Opfer."
Die gibt es. Kambodscha, Ruanda, Dafur, Bosnien. Und täglich kommen mehr dazu. Hoffnungsvoll aber mahnend endet die Rede vor dem neuen Präsidenten der Hoffnung. Doch die entscheidende Frage hat Wiesel schon in ihrer Mitte gestellt.
Wird die Welt je lernen?
Wird der Mensch je lernen? Ich denke nicht, dass Wiesel das denkt. Ich denke nicht, dass Obama das denkt und auch ich denke das nicht. Die unausgesprochene Antwort auf diese Frage wird zu einer bleibenden, unangenehmen Stille ...